in der Hochphase der Pandemie (2020 – nicht von ungefähr das Gedenkjahr des 100. Geburts- und des 50. Todestages des Dichters) wurde ich aufmerksam auf ein Gedicht von Paul Celan mit dem bezeichnenden Titel „Corona“.
Es ist ein schwer zu verstehendes Gedicht, eine konsequente Gedankenlinie ist kaum zu erkennen. Das Gedicht endet mit den Zeilen:
„es ist Zeit, daß (*) man weiß!
Es ist Zeit, daß der Stein sich zu blühen bequemt,
daß der Unrast ein Herz schlägt.
Es ist Zeit, daß es Zeit wird.
Es ist Zeit.“
Wie es bei diesem Dichter üblich ist, wird der Leser, die Leserin auf biblische Grundbegriffe und Bilder aufmerksam gemacht.
Unmittelbar lässt uns die zweite Zeile des Gedichtes an die Bilder denken, die der Prophet Jesaja entwirft, die Inhalt der liturgischen Wortverkündigung des Advent sind. Und der Advent öffnet per se den Blick auf Weihnachten. Überdies zeigt sich aufmerksamen Beobachter/innen ein solches Motiv auch in der realen Natur: wie ein Wunder wächst aus manch steinerner Mauer eine Pflanze oder ein Baumtrieb.
Für Jesaja ist es die Wüste, die blühen wird: „Die Wüste…soll prächtig blühen wie eine Lilie,… (35, 2)“; „Wenn der Geist aus der Höhe über uns ausgegossen wird, dann wird die Wüste zum Garten (32, 15), schließlich wächst „aus dem Baumstunpf Isais ein Reis hervor (11, 1).“
Der blühende Stein, die blühende Wüste sind Bilder für das Lebendige, das das Tote zum Leben bringt. Sie drücken die Sehnsucht des Menschen nach Dynamik, nach Leben aus. Sie sind entworfen aus der Erfahrung von teils steiniger, dürrer Wirklichkeit. Wie viele Wüsten begegnen uns in der aktuellen Gegenwart? Die sich gegen Manipulation wehrende Natur, vergiftete Beziehungen, zerstörtes Vertrauen, das Recht des Stärkeren, so wäre die Reihe unschwer fortzusetzen. Wir wehren uns von innen heraus dagegen. Die Bilder der Propheten zeugen von deren Hoffnung und Vertrauen und wollen uns Mut machen, ihre Sicht zu teilen.
Das Herz für die Unrast erinnert an den Propheten Ezechiel. Er lässt Gott verkünden, das Herz aus Stein gegen das Herz aus Fleisch auszutauschen (36, 26): „Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch. Ich nehme das Herz von Stein aus eurer Brust und gebe euch ein Herz von Fleisch.“ Das Herz der Unrast ist ein steinernes, ein kaltes Herz; das Herz aus Fleisch ist ein liebendes. Es wird geschenkt. Hören wir die Signale der neuen Menschwerdung? Der Menschwerdung Gottes als Maßstab für die Menschwerdung des Geschöpfes? Gott schenkt uns seinen Sohn. Mit IHM kommt das Herz Gottes in unsere Welt, in unsere Geschichte, in unsere Zeit.
Damit wären wir beim dritten biblischen Motiv im Gedicht von Paul Celan angekommen. Mit dem Thema „Zeit“ beschäftigt sich philosophisch der Prediger Salomo, Kohelet. Er schließt sein Gedicht über die „fallende Zeit“ (3, 1 – 11) mit dem Gegensatzpaar Krieg und Frieden. Es gibt „eine Zeit für den Krieg und eine Zeit für den Frieden (3, 8).“ Der „Friede“ ist biblisch der Inbegriff für die messianische Zeit: „ER wird der Friede sein (Mi 6, 4).“ Schon bei den Propheten wird der Friede personifiziert in der Gestalt des Messias; der Friede ist keine bloße Idee oder Gesinnung. Friede muss Wirklichkeit werden. Wiederum werden wir vor unsere raue Wirklichkeit gestellt. Wir erfahren uns ohnmächtig angesichts des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine, der mittlerweile die „Zeit“ von 1000 Tagen überschritten hat. Wir müssen unsere Wut zügeln angesichts des Massakers gegen die Juden in Gaza und dessen Folgen. Wir erleben Kriege in allen gewaltsamen Angriffen auf wehrlose Menschen, gleich welcher Religion oder Herkunft sie sind. Praktisch können wir wenig tun. Aber wie wäre es, wenn das „Herz aus Fleisch“ sich die „Zeit“ nähme, in den kommenden Tagen und Wochen einmal nachzudenken, ob und wie die Botschaft von der „Fleischwerdung“ des Wortes die von Krieg, Gewalt und Terror heimgesuchten Menschen überhaupt noch erreichen kann.
Wenn uns das gelänge, würden wir vielleicht erkennen, dass Gottes Wohnungnehmen auf Erden, eben Weihnachten, neben der berechtigten Freude auch den Anspruch umfasst, überall da, wo möglich, Steine zum Blühen, Herzen zum Schlagen und Zeiten den Frieden zu bringen.
Möge uns Gott zu Weihnachten mit Freude und Dankbarkeit erfüllen und unsere Zeit unter seinen Segen stellen!
Pfr. Dr. Roland Scheulen
(*) Die originale Rechtschreibung des Gedichtes wurde beibehalten.